Ich sehe Dich.
Wir jagen durch Sonnengrüße, Armbalancen, Kriegerpositionen. Die Musik ist laut und poppig. Wir tragen bunte Hosen, sündhaft teure Shirts mit Friedensbotschaften, hippen Schmuck und bewegen uns durch dynamische Yogasequenzen, die mit der ursprünglichen Idee Patanjalis zu sitzen und meditieren ungefähr soviel zu tun haben wie Alexander Van der Bellen mit Norbert Hofer. Die Luft ist heiß, der Schweiß läuft uns über die anmutig gestählten Oberarme und der Anblick im Spiegel ist pure Ästhetik. Und dennoch ich sehe Dich. Ich sehe wie Du haderst, wenn Dir Bakasana nicht gelingt. Du die Kraft im Chaturanga verlierst. Ich sehe wie Du in Dialog mit Dir trittst. Dich selbst um mehr Geduld bittest. Dein Schmerz in deiner Beinrückseite. Der Kampf dem Gefühl der Wut auszuweichen, das Dich durch die gesamten 30 Atemzüge in der Taube begleitet. Und 30 Atemzüge können so lange sein. Ich sehe Deinen harten Blick im Spiegel, wenn Du Deinen Bauch betrachtest und ich sehe Deine Bewunderung für die Beine der Mitpraktizierenden. Ich sehe Dein Lächeln wenn Du das erste Mal im Kopfstand stehst und der Stolz, der die harte Arbeit der letzten Wochen belohnt. Ich sehe Dich in Savasana atmen und Frieden finden. Ich sehe wie Du all das siehst und dem nicht ausweichst, sondern Woche für Woche daran arbeitest um mit Dir in Beziehung zu treten. Ich sehe wie Du wächst und Dich lieben lernst und Du siehst wie ich es sehe. Mit Dir den Raum halte und während ich Dich sehe, sehe ich mich und darf wachsen und mich lieben lernen.