Migräne und wie man sterben will
Bier, Marihuana, Tigerbalsam, Schlaftabletten, Schmerzmittel in abartiger Überdosierung, Kühlkissen, Duschen bei Temperaturen nahe der Verbrennung, Nasensprays und das Bedürfnis den eigenen Kopf immer und immer wieder gegen eine Wand zu schlagen. Das klingt ein wenig nach einer labilen, psychischen Veranlagung mit der Tendenz zu einem Übergebrauch an Rauschmittel. So geht es mir und vielen, vielen anderen Menschen, die an Migräne leiden. Nichts bleibt unversucht und dennoch bleibt das Gefühl nicht genug gemacht zu haben.
Mittlerweile weiß man, dass es sich bei Migräne um eine genetische Prädisposition handelt, die von unzähligen Triggern ausgelöst werden kann. Man geht von einer Hyperaktivität der Nervenzellen, einer Hochschaubahn des Seratononhaushaltes, einer entzündeten Hirnhaut, sowie einer Erweiterung der Gefäße aus. Doch so richtig sicher ist man sich nicht ganz, weder in der Kausalität noch bei möglichen Therapieformen. Nach wie vor herrscht jedoch, nicht nur in der normalen Bevölkerung, sondern auch bei vielen MedizinerInnen, das Bild der hysterischen Frau. Die meisten chronischen Erkrankten erfahren Akzeptanz in ihrem Schmerz. Das ändert natürlich nichts an dem Leid, das sie erfahren. Doch es macht einen riesigen Unterschied. Jahrelang habe ich versucht die Migräne zu verstecken, runterzuspielen, lapidar abzutun, um das Unverständnis wie auch die vielen gut gemeinten Ratschläge zu vermeiden. Bisschen Kopfschmerzen? „Leg dich doch einfach hin und schlaf, dann ist morgen alles wieder gut.“ Nein, leider! Bei einem Anfall beginnt ein pulsierender, stechender Schmerz halbseitig deinen Kopf zu terrorisieren. Begleitet wird dieses unablässige Stechen mit Schmerzen im Auge, einer extremen Licht-, Geruchs- und Lärmempfindlichkeit sowie eine Übelkeit, die an Seekrankheit erinnert. Unbehandelte Schmerzattacken dauern bei mir zwischen 4 und 11 Tagen. Das sind Tage, die mir niemals jemand wieder zurückgeben kann. Sie sind gestohlen und versauen mir mein Leben auf eine kaum beschreibbare Weise. Meine Freundin, die an einer ähnlich starken chronischen Migräne leidet beschreibt es treffend als einen Ausflug in die Hölle. Chronische Migräne was bedeutet das? Das sind Menschen, die an mehr als 15 Tagen in Monat Schmerzen haben. 15 Tage sind gute Monate bei mir!
Warum schreibe ich diesen Blogeintrag? Ich zähle bestimmt nicht zu den sich selbstbedauernden Menschen, die das Mitleid der Welt suchen. Ich möchte dennoch darauf aufmerksam machen, wie es sich mit einer Krankheit lebt, die Schwierigkeiten hat als solche gesehen zu werden. So wie die meisten Betroffenen habe ich alles versucht. Es gibt kein Schmerzmittel, dessen Wirkung ich nicht kenne, keine AlternativmedizinerInnen in Wien, denen ich ein mittleres Jahreseinkommen geschenkt habe und keine herkömmlichen ÄrztInnen, die mich nicht weinend in ihren Wartezimmern sitzen hatten. Ich habe Betablocker genommen, keinen Alkohol und Zucker konsumiert, gekneipt, einen Tagesrhythmus wie im Gefängnis eingehalten, mir jede Freiheit erlaubt, Sport bis zur Ekstase betrieben, meditiert, Hitze vermieden und gehofft, dass der weibliche Zyklus keine hormonelle Veränderung mit sich bringt. Was bleibt ist die bittere Erkenntnis, das nichts hilft.
Doch langsam nach 20 Jahren der heimtückischen Attacken finde ich mich ab. Mit Botox im Kopf und Triptanen (Gott schütze die Pharmaindustrie) in der Tasche, schaffe ich die meisten meiner Anfälle binnen einiger Stunden abzufangen. Wenn es mir mal nicht gelingt, bin ich den Angestellten der Neurologie im AKH unendlich, für ihre liebevolle Bereitschaft zu helfen, dankbar und freue mich einen Arzt gefunden zu haben, der sagt „ja klar sollst du nicht mehr als 3 Relpax in 24 Stunden nehmen, aber dann nimmst du halt mehr“. Der Migräneguru des Landes: ein Neurologe der offen zugibt zu hoffen. Auf die Forschung und per Zufall das eine Medikament zu finden, das der einen Patienten eben hilft. Dankbar eine Mama zu haben, die in die Nachtapotheke fährt und Rücksicht nimmt. Dankbar für Freundinnen die, sobald ich sage Kopfschmerzen zu haben, Verabredungen für mich absagen, um mir die Verlegenheit zu ersparen. Dankbar für die Yogamädls, die meine Stunden halten wenn mich die Toilette ruft. Dankbar einen Freund zu haben, der stundenlang still neben mir liegt und meinen Kopf streichelt und Kühlkissen auswechselt. Dankbar meinen Körper besser zu kennen, als die allermeisten Menschen und gelernt zu haben, unfassbar selektiv zu erinnern. Sodass nur die schönen Momente in meinem kleinen, klugen, verrückten Köpfchen gespeichert zurückbleiben!