Die Schande Europas

Es hat über vier Tage gedauert, bis ich es geschafft habe mir Fotos von Moria anzusehen. Vier Tage an denen ich wohl Fotos gesehen, Berichte gelesen, Interviews gehört habe – aber es hat vier Tage gedauert, um tatsächlich zu wagen dieses Elend mit meinem Herzen zu sehen. Danach musste ich so bitterlich weinen, wie schon sehr, sehr lange nicht mehr. Zu wissen, dass mein kleines Kind wohl behütet in unserem Familienbett schläft, gut genährt, warm gebadet, in frischer Windel, in sauberer Wäsche. Zu wissen, dass wir ihn gemeinsam gestreichelt, seine Lieblingsmusik gehört haben, er seine Gute-Nacht-Flasche getrunken hat und sicher geborgen in den Armen seines Papas einschlafen durfte. Ich weiß, dass es meinen Kindern nie an etwas fehlen wird. Sie niemals hungern, frieren und Durst erleiden müssen. Sie medizinische Versorgung, eine gute Bildung erhalten werden und ziemlich sicher nie um ein Morgen bangen müssen. Das alles, weil sie das Glück hatten hier im Herzen Europas geboren zu sein. Dieses Glück hatten die Kinder, die nun in Moria hungern und frieren, keine Schuhe und kein Wasser haben, die in schmutziger Erde liegend, sich an das letzte Stofftier klammern, nicht. Mit ihren Eltern geflüchtet aus Ländern, in denen seit Jahren Krieg herrscht. Auf unvorstellbare Weise nach Europa gekommen, leben sie nun seit Jahren in den überfüllten Lagern Griechenlands. Jeder Mensch, der ein Kind zur Welt gebracht hat, muss sich nur ein einziges Mal die Frage stellen, wie aussichtlos die Situation im Heimatland sein muss, um eine Flucht über Land und Wasser mit seinen Kindern zu riskieren. Niemand flieht, wenn er nicht muss. Niemand flieht, wenn es nicht aussichtslos ist. Jahrelang hat Europa nicht gehandelt. Jahrelang hat Europa zugeschaut, wie Kinder sich in Moria selbst das Leben genommen haben. Wir kennen alle die Bilder von ihnen in Flipflops an offenen Feuerstellen und haben zugeschaut.

Erinnern wir uns an 2015, sagt der Kanzler. 2015 darf sich nicht wiederholen, sagt der Außenminister. Wer die Lager jetzt leert, trägt die Verantwortung für die nächste Zuwanderungswelle. Brandstiftung darf nicht mit Asyl belohnt werden, sagt der Innenminister. Das kann ich mit meinem Gewissen nicht vereinen, sagt der Kanzler.

Mag es Populismus sein, oder das tatsächlich menschenverachtende Weltbild dieser Bundesregierung – es lässt mich erschaudern. Die Kommentare auf den sozialen Foren geben den großen Politikern häufig recht. Kein Platz für diese Kinder, kein Platz für ihre Eltern, kein Platz für diese Menschen. Immer wieder fällt 2015 und ich frage mich, was war 2015? Wo geht es uns ÖsterreicherInnen seither schlechter? Alle Kriminalitätsstatistiken sind gesunken, die medizinische Versorgung ist gesichert und wenn es uns subjektiv schlechter geht, dann nur weil es Medien und Politik so wollen. Denn es gibt keine validen Daten, die das belegen könnten. 

Minister Blümel, wenn du abends dein Kind sicher und wohlbehütet ins Bett bringst, weißt du dann um deine Politik? Weißt du was dein Handeln, deine Worte, deine Härte, deine Kälte für eine Gesellschaft bilden? Hier geht es nicht um Stimmenmaximierung, hier geht es um ein humanistisches Europa. Ein Europa, der Menschlichkeit, der Achtung vor dem Leben Anderer, ein Europa des Hinsehens und nicht bloß Hinzeigens, um die eigene Macht zu maximieren. Wohl wissend, dass diese Macht auf Kosten der Ärmsten entsteht. 

Nachdem ich fertig geweint habe, bin ich zu meinem Baby gegangen und habe es geküsst und gestreichelt. Dann habe ich mich mit einer Folge einer Serie abgelenkt, um diesen unendlichen Schmerz nicht mehr spüren zu müssen. Diese Ablenkung ist den Kindern und ihren Eltern, all den Menschen in den Lagern Griechenlands wohl nicht vergönnt. Sie leben mit dem Schmerz nicht gewollt zu sein. Sie leben mit dem Schmerz ihren Familien keine sichere Zukunft, kein warmes Bett, Essen und auch nicht genügend Wasser zum Trinken geben zu können. Das Inmitten von Europa.